Wil im Wandel: Wird ehemalige CVP- bald SVP-Hochburg?

Wil im Wandel: Wird ehemalige CVP- bald SVP-Hochburg? | Stadt Wil SG (wil24.ch)

wil24.ch, Adrian Zeller

Am 22. September 2024 wird in Wil ein neues Stadtparlament gewählt. Seit dessen Gründung haben sich die politischen Kräfteverhältnisse erheblich verändert. Bei den kommenden Wahlen könnte das politische Gefüge weiter umgestaltet werden.

Im «Reise- und Handlexikon der Schweiz» von 1854 heisst es über die Äbtestadt: «Kleine Stadt mit 1555 Einwohnern in einer fruchtbaren, angenehmen Gegend. Hat grosse Durchfuhr und bedeutende Wochen- und Jahrmärkte.» Seither sind 170 Jahre vergangen, in dieser Zeit hat die Stadt eine tiefgreifende Metamorphose durchlaufen, die weiter anhält. Knapp 25 000 Menschen leben mittlerweile in Wil, sie wollen politisch repräsentiert werden. 

Der Platz zwischen Hof und Baronenhaus wird als Goldener Boden bezeichnet. Dieser Name geht auf jene Phase zurück, als Handwerker, Ladeninhaber und Gastwirte in der Altstadt ein gutes Auskommen hatten. Von dieser Zeit berichtet etwa Jacob Lorenz, der um 1905 vorübergehend als Redaktor der Zeitung «Wyler Bote» wirkte. Er fand Anschluss bei der Familie Sailer, die in der Altstadt eine Buchbinder-Werkstatt mit Papierwaren-Handlung führte. Man verbrachte die Freizeit in den Wohnräumen im ersten Stock mit Familienspielen. «Es war ein behagliches Zusammensein und Geborgensein», erinnerte sich Lorenz in seiner Autobiografie. Wil bestand damals im Wesentlichen aus der Altstadt, in der eine überschaubare ziemlich homogene Gemeinschaft lebte. Das städtische Leben spielte sich hauptsächlich dort ab.

Altstadtbewohner arbeiten ausserhalb

Dieses Beispiel veranschaulicht den Wandel Wils: Besucherinnen und Besucher loben heute die Schönheit des historischen Stadtkerns, wundern sich aber, wie unbelebt er wirkt. Die einstige typische Einheit von Arbeiten und Wohnen, die Lorenz erlebt hat – unten das Ladengeschäft, die Gaststube oder die Werkstätte, oben die Wohnräume – sind längst Geschichte. Viele der heutigen Bewohner der Altstadt arbeiten ausserhalb. Einzelne Ladengeschäfte finden mittlerweile über längere Zeit keine neuen Mietenden mehr. Lediglich am Mai-, Othmars- und Adventsmarkt sowie am  Samstagsmarkt wirkt die Altstadt heute noch als Kundenmagnet.

Die Bedeutung von Wil als regionaler Einkaufsort, von der der Reiseführer-Autor 1854 schreibt, hat merklich abgenommen. Wie Zählungen eines Ladeninhabers zeigten, hat sich die Zahl der Passanten an der Oberen Bahnhofstrasse in den letzten Jahren deutlich verringert. Zu dieser Entwicklung hat auch der digitale Handel beigetragen: Seit 2012 hat sich der Umsatz im Onlinehandel in der Schweiz nahezu verdreifacht, er beträgt mittlerweile rund 14 Milliarden Franken. Zudem werden die Supermärkte in Rickenbach und in Gloten mit Parkmöglichkeiten gut frequentiert. Das veränderte Kundenverhalten kann der Wiler Politik nicht gleichgültig sein, es betrifft die wirtschaftliche Basis der Stadt.  

Reformation als Auslöser

Den Anstoss zur einstigen Entwicklung von Wil als wichtigem Handelsort und als Regionalzentrum legte der Renaissance-Fürstabt Ulrich Rösch (1426-1491). Er vermittelte Wil zusätzliche Marktrechte; in der Folge prosperierte die Stadt. Rösch setzte damals auf Wil, weil er in St. Gallen durch die Reformation zunehmend in Bedrängnis geriet. Er erweiterte den Hof als Amtssitz und verbrachte viel Zeit in der Stadt. Die Wiler wussten um die Vorzüge der fürstäbtischen Gunst und der Privilegien, sie verhielten sich weit loyaler als die St. Galler.       

Die Verbundenheit mit der katholischen Kirche war in Wil auch nach dem Ende der Fürstabtei 1805 besonders gross. Dies hat die Mentalität geprägt. In Wil waren viele Einwohner in katholischen Vereinen organisiert, schreiben Verena Rothenbühler und Oliver Schneider in der 2020 erschienen Wiler Chronik. «Das katholische Vereinswesen bildete das Rückgrat des sogenannten «katholischen Milieus». Dieser Begriff bezeichnet gemäss den beiden Historikern eine homogene Sondergesellschaft, die sich aufgrund der gemeinsamen Konfession organisierte und sich bewusst von anderen gesellschaftlichen Gruppen abgrenzte.

Kirche prägte die Politik

Diese enge Verbundenheit mit der katholischen Kirche und Kultur zeigte sich auch in der Mentalität. «Geprägt wurde die städtische Politik von der Konservativ-Christlich-sozialen Volkspartei (KCVP),» notierten Schneider und Rothenbühler. Aus der 1880 gegründeten politischen Interessenvertretung der Schweizer Katholiken, ging später die CVP und darauffolgend die Die Mitte hervor. Die Medien bezeichnen Wil oft als «CVP-Hochburg». Die Stadtoberhäupter sowie viele Exekutivmitglieder gehörten ganz selbstverständlich stets der CVP bzw. Mitte an.

Wahlen erfolgten in der Kirche

Nach dem ersten Weltkrieg wurde Wil von einem neunköpfigen Gemeinderat regiert. In ihm versammelten sich gemäss Schneider und Rothenbühler Beamte, Kleinunternehmer und Männer mit höherer Bildung, nicht aber Arbeiter und Angestellte. «Die Sozialdemokraten blieben in Wil weitgehend von der Gemeindepolitik ausgeschlossen», schreiben die beiden Historiker. Der St. Galler Bischof Alois Scheiwiler warnte einst eindringlich vor der Wahl von Sozialdemokraten.

Der Wiler Gemeinderat wurde jeweils alle vier Jahre von den stimmberechtigen Männern im Anschluss an den Gottesdienst in der Kirche gewählt. Die damals noch nicht stimmberechtigen Frauen waren von der städtischen Politik ausgeschlossen.

Abnahme der Sitze der Mitte-Partei

Um die politischen Meinungen präziser abbilden zu können, bekam die Äbtestadt ab 1985 ein Stadtparlament. Bei dessen Gründung hatten Vertreterinnen und Vertreter der CVP die Hälfte der vierzig Sitze inne. Heute bilden acht Mitte-Mitglieder sowie ein EVP-Vertreter die entsprechende Fraktion.

Mit der Einführung des Stadtparlaments betrat die politische Gruppierung prowil das politische Parkett. Durch die Babyboomer-Jahrgänge war der Anteil an jungen Wilerinnen und Wilern relativ gross. Sie brachten Aufbruchstimmung in die Stadt und wollten deren Entwicklung mitbestimmen. Für viele mit der städtischen Politik unzufriedene war prowil ihr parlamentarisches Sprachrohr. Später schloss sich die Partei den Grünen an, um so auch auf höheren politischen Ebenen Sitze erobern zu können. Anfänglich startete Grüne prowil mit drei parlamentarischen Vertretern, mittlerweile sind es sechs.

Abstimmung zur Steuersenkung

Während die Linke mit Grüne prowil und SP im Stadtparlament an Stärke gewann, meldete sich 2002 in Wil eine neue politische Stimme zu Wort: die SVP. Sie löste nach und nach die CPV (bzw. Mitte) als tonangebende politische Kraft ab; mittlerweile ist sie die wählerstärkste Partei. Die veränderten Kräfteverhältnisse manifestierten sich etwa in der Volksabstimmung vom 14. April 2024. In ihr forderten die SVP mit Unterstützung der FDP, des Gewerbevereins und des Hauseigentümerverbands eine Senkung des städtischen Steuersatzes von 118 auf 115 Prozent. Obwohl sich Mitte, Grüne prowil, GLP, EVP und SP für die Beibehaltung des bisherigen Steuerfusses engagierten, folgte die Mehrheit der Stimmberechtigen der SVP-Forderung.       

Von der „CVP-Hochburg“ zur „SVP-Hochburg“?

Für die Wahlen am 22. September tritt nun ein Vertreter der SVP fürs Stadtpräsidium an. Ob Andreas Hüssy in dieses Amt gewählt wird, steht aktuell in den Sternen, ebenso wie eine Wiederwahl des erneut antretenden Stadtpräsidenten Hans Mäder von der Mitte. Es ist aber ebenso möglich, dass Andreas Hüssy den Einzug in den Stadtrat schafft. Zusammen mit der bisherigen Stadträtin Ursula Egli würde auf diese Weise das SVP-Gewicht in der Wiler Exekutive verstärkt, dann würde sich Wil von der langjährigen «CVP-Hochburg» allmählich zur «SVP-Hochburg» wandeln.    

Kantonsrätin
Ursi

Ursula Egli-Seliner

Präsident SVP Stadt Wil Stadtparlamentarier Mitglied Werkskommission
Andreas

Andreas Hüssy