Bettelverbot unter Druck: Lockert nach St.Gallen auch Wil seine Regeln?

Bettelverbot: Lockert nach St. Gallen auch Wil die Regeln? (tagblatt.ch)

Michael Nittnaus, Wiler Zeitung

Auf Wiler Stadtgebiet ist Betteln in der Öffentlichkeit verboten. Urteile aus Strassburg und vom Bundesgericht zu Regelungen anderer Kantone bringen diese strikte Praxis nun in Bedrängnis.

Donnerstagmittag an der Oberen Bahnhofstrasse in Wil: Ein Mann bettelt mit einem Kartonschild in der Hand um Geld. Eine Frau bleibt stehen und öffnet ihr Portemonnaie. Da geht ein Passant dazwischen und ruft: «Machen Sie das nicht. Er ist illegal hier. Geben Sie ihm kein Geld.» Diese Botschaft wiederholt er mehrfach, ehe er weiterläuft. Und die Intervention wirkt: Die Frau steckt das Portemonnaie wieder ein. Zurück bleibt ein verdutzter Bettler. Für Protest oder Dialog fehlen ihm sowohl Sprache wie Worte.

Diese zufällig beobachtete Szene dürfte in Wil Seltenheitswert haben. Denn in der Äbtestadt gilt ein generelles Bettelverbot. In Artikel 11 des seit 2016 gültigen Polizeireglements steht kurz und knapp: «Das Betteln ist in der Öffentlichkeit verboten.» Noch kürzer hält es die Stadt St.Gallen. «Das Betteln ist verboten», ist das Einzige, das im dortigen Polizeireglement unter dem Stichwort Bettelverbot festgehalten wird.

Juso-Politiker will Wiler Bettelverbot kippen

Doch das wird sich nun ändern. In einer Antwort auf eine Einfache Anfrage der SP-Parlamentarierin Marlène Schürch hielt der St. Galler Stadtrat Ende August fest, dass er den Wortlaut des bestehenden Bettelverbots «als problematisch ansieht». Er weist darauf hin, dass mittlerweile rein passives Betteln nicht mehr strafrechtlich geahndet werde, ausser die öffentliche Sicherheit und Ordnung werde gestört.

Die Praxisänderung in St. Gallen war einer der Hauptimpulse für Timo Räbsamen, auch das Wiler Bettelverbot überprüfen zu lassen. Der Juso-Stadtparlamentarier reichte deshalb jüngst eine Anfrage an den Stadtrat ein. Darin möchte er wissen, ob der Stadtrat bereit sei, den Artikel 11 des Polizeireglementes komplett zu streichen oder wenigstens zu überarbeiten. Gegenüber dieser Zeitung hält Räbsamen fest: «Ich glaube, die Wiler Regelung könnte es schwer haben, einer Überprüfung vor dem Bundesgericht standzuhalten.»

Dieser Glaube fusst beim 25-Jährigen auf zwei Urteilen. 2014 hielt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg fest, dass die Schweiz gegen die europäische Menschenrechtskonvention verstossen habe. Dies, weil im Kanton Genf eine nicht in der Schweiz wohnhafte Bettlerin, die eine Busse nicht zahlen konnte, mit einer Gefängnisstrafe belegt worden war. Erst gerade im März 2023 hiess das Bundesgericht eine Beschwerde gegen das partielle Bettelverbot des Kantons Basel-Stadt teilweise gut. Das dort 2021 eingeführte Bettelverbot in öffentlichen Parks sei unverhältnismässig.

SVP-Präsident hofft auf bürgerlichen Stadtrat

«Ein allgemeines Bettelverbot, wie es aktuell in Wil gilt, halte ich für problematisch», sagt Räbsamen. Der Satz im Polizeireglement bilde die juristische Grundlage des Handelns der Polizei. Analog zum Fall in Genf bestehe die Gefahr, dass nicht bezahlte Ordnungsbussen in Freiheitsstrafen umgewandelt werden. «Aus Sicht des EGMR wäre das menschenrechtsverletzend», so Räbsamen.

Doch wie geht die Wiler Polizei in der Praxis mit Artikel 11 um und wie oft wurden Bettler gebüsst? Leider teilte die Stadt mit, sich aufgrund des hängigen Vorstosses generell nicht zu äussern. Timo Räbsamen hofft, dass die Polizei ihr Vorgehen wegen der Urteile angepasst hat oder es bald tut. Denn für den Jungsozialisten ist klar: «Menschen betteln nicht aus Spass, sondern weil es ihre letzte Möglichkeit ist, um Tag für Tag durchs Leben zu kommen. Kriminalisiert man sie, bekämpft man arme Menschen, nicht aber die Armut.»

Überhaupt sieht Räbsamen in Wil keine Dringlichkeit für solch scharfe Regeln, gebe es doch keine Bettel-Hotspots oder aggressive, organisierte Bettlergruppen. Diese Beobachtung teilt auch Andreas Hüssy, allerdings kommt der Präsident der SVP Stadt Wil zu einem anderen Schluss: «Wil hat kein Bettelproblem, weil wir das Verbot haben.»

Hüssy warnt vor «übervorsichtigem Gehorsam» gegenüber dem Bundesgericht oder Strassburg. Zudem ist er überzeugt, dass die allermeisten Bettler aus dem Ausland kommen: «Schweizer Bedürftige können aufs Sozialamt und Sozialhilfe beziehen. Sie müssen nicht betteln.» Dementsprechend hofft er, dass der Wiler Stadtrat nicht am Bettelverbot schraubt. Etwas stimmt Hüssy zuversichtlich: «Zum Glück haben wir in Wil keine so linke Regierung wie in St. Gallen.»

Präsident SVP Stadt Wil Mitglied Stadtparlament Mitglied Geschäftsprüfungskommission
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Andreas Hüssy