Das Bettelverbot wankt: Auch der Stadtrat hat Bedenken und will handeln, bevor das Bundesgericht interveniert

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Michael Nittnaus, Wiler Zeitung

Das allgemeine Bettelverbot, das Wil im Polizeireglement verankert hat, «erscheint zu restriktiv», urteilt der Stadtrat. Ändern müsste dies das Stadtparlament. Doch könnte es am Ende wie in Basel gar zu einer Verschärfung führen?

Seit 2016 gilt in der Stadt Wil ein striktes Bettelverbot. In Artikel 11 des Polizeireglements steht unmissverständlich: «Das Betteln ist in der Öffentlichkeit verboten.» Tatsächlich prägen Menschen, die am Strassenrand sitzen und Passantinnen und Passanten um Geld bitten, aktuell nicht das Stadtbild. Eine Frage, die derzeit viele Schweizer Städte – und die Gerichte – beschäftigt, ist aber, ob so strikte Verbote rechtens sind.

Nun kommen auch beim Wiler Stadtrat Zweifel auf. In einer neu publizierten Antwort auf einen Vorstoss des Juso-Stadtparlamentariers Timo Räbsamen schreibt die Exekutive: «Die Bestimmung im Polizeireglement der Stadt Wil erscheint als zu restriktiv.» Dies vor dem Hintergrund der Urteile des Bundesgerichts 2023 und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte 2021 zu Fällen in Basel-Stadt respektive Genf. «Erste Abklärungen haben ergeben», so der Stadtrat, «dass die Urteile Einfluss auf das Polizeireglement haben könnten».

Stadtrat mit Steilvorlage für Timo Räbsamen

Dies lässt Timo Räbsamen frohlocken. Auf Instagram teilt der 25-Jährige seine Freude und nennt es seinen ersten realpolitischen Erfolg. Gegenüber dieser Zeitung sagt er: «Das ist natürlich eine sehr positive Antwort des Stadtrates. Er anerkennt, dass wir mit dem aktuellen Reglement ein Problem haben.» Was Räbsamen ausserdem freut: Die Wiler Stadtregierung schreibt, dass sie «bereit ist, die Rechtmässigkeit von Artikel 11 juristisch zu prüfen und bei Bedarf dem Stadtparlament eine Überarbeitung vorzuschlagen».

Gleichzeitig hält sie aber auch fest, dass eine Anpassung des Reglements Sache des Stadtparlaments sei. Räbsamen klärt nun ab, ob der Stadtrat einen separaten Auftrag des Parlaments benötigt, um aktiv zu werden: «Wenn dem so ist, werde ich natürlich einen neuen Vorstoss formulieren.» 

SVP verknüpft Bettelverbot mit Sicherheitsthema

Enttäuscht über die Stadtratsantwort ist der Präsident der Wiler SVP, Andreas Hüssy: «Ich hätte mir eine stärkere Verteidigung des Polizeireglements erhofft. Stattdessen knickt der Stadtrat in vorauseilendem Gehorsam bereits ein.» Für den Parlamentarier fehlt es – anders als in Basel oder Genf – an einem Kläger, der das Reglement juristisch anficht. In Wil habe sich die abschreckende Wirkung des Bettelverbots schliesslich bewährt.

Hüssy hofft, dass dies das bürgerlich dominierte Parlament mehrheitlich ebenso sieht. Und er erinnert die Fraktionen an etwas: Erst vor knapp drei Wochen stimmte das Stadtparlament fast einstimmig dafür, die Einführung einer zivilen Sicherheitspatrouille zu prüfen. «Es wäre widersprüchlich, das Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung nun wieder zu hintertreiben.» Räbsamen, der als Einziger die Patrouille ablehnte, widerspricht: «Menschen, die betteln, sind doch keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Die SVP will bloss alle vertreiben, die nicht in ihr Bild einer kleinbürgerlichen Stadt passen.»

In Basel dürfen Ausländer gar nicht mehr betteln

Was sich abzeichnet: Die Mitte dürfte im Parlament das Zünglein an der Waage sein. Auf Anfrage sagt Mitte-Fraktionschef Reto Gehrig, dass sich die Fraktion erst absprechen müsse. Persönlich ist für ihn aber klar: «Wir legen ein grosses Augenmerk darauf, dass die geltenden Reglemente in Wil gesetzmässig sein müssen.» Es gehe hier letztlich um eine Rechtsrisikoabschätzung, die gemacht werden sollte. Dies müsse aber nicht zwingend in einer Aufhebung des Bettelverbots münden.

Genau das erhofft sich freilich Timo Räbsamen. Ein Blick nach Basel-Stadt zeigt allerdings, dass solche Bestrebungen auch ins Gegenteil kippen können. Obwohl das Bundesgericht bestimmte Aspekte des dortigen teilweisen Bettelverbots als zu strikt beurteilte, wird es im Polizeialltag seit Juli schärfer denn je ausgelegt. Dies weil das Bundesgericht festhielt, dass Personen, die einzig zum Betteln in die Schweiz kommen, die Einreisevoraussetzungen nicht erfüllen. Dafür müsste man einen Job oder genügend Geld für den Aufenthalt haben.

Auch wenn diese Auslegung juristisch umstritten ist und wohl erneut angefochten wird, sucht die Basler Polizei nun aktiv ausländische Bettelnde auf. Die Folge: Bettelten früher rund 170 Personen aus Osteuropa in der Stadt am Rheinknie, sind es gemäss Medienberichten nun noch ein bis zwei Dutzend.

Präsident SVP Stadt Wil Mitglied Stadtparlament Mitglied Geschäftsprüfungskommission
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Andreas Hüssy